Nach einer dreijährigen Übergangsfrist löst zum 26. Mai 2020 die Europäische Medizinprodukteverordnung (MDR, Medical Device Regulation) die bisherige Richtlinie über Medizinprodukte (MDD, Medical Device Directive) ab. Angesichts der anspruchsvollen Vorbereitungen sind viele Unternehmen und Zertifizierungsstellen aber noch immer unzureichend auf die kommenden Anforderungen vorbereitet.
Zu Beginn der 2010er Jahre erschütterten Medienberichte über fehlerhafte Brustimplantate, die zu Rissen und zu einem Auslaufen des Silikongels neigten, die Öffentlichkeit. Es kam heraus, dass das französische Unternehmen Poly Implant Prothèse (PIP), zu dieser Zeit der drittgrößte Lieferant von Brustimplantaten weltweit, in betrügerischer Weise nichtmedizinisches Industriesilikon in den Produkten verwendet hatte – zum Schaden von Tausenden Patientinnen. Dieser Skandal und gravierende Probleme mit bestimmten orthopädischen Implantaten lösten eine vollständige Überarbeitung der Europäischen Medizinprodukteverordnung aus.
Der darin festgeschriebene gestiegene Aufwand für die klinische Prüfung und die Technische Dokumentation trifft Großunternehmen allerdings in einem geringeren Maß als kleine und mittlere Unternehmen. Fehlende Skalierungsmöglichkeiten, damit steigende Stückkosten und Engpässe bei Personal und Know-how setzen die Wettbewerbsfähigkeiten von KMU unter besonders hohen Druck. Das betrifft die überwiegende Anzahl deutscher Medizintechnik-Unternehmen. Über 90% unter ihnen sind KMU. Werden die organisatorischen Herausforderungen nicht rechtzeitig gemeistert, droht den Unternehmen der Verlust der Marktzulassung von betroffenen Produkten. Im schlimmsten Fall kann das sogar zu Engpässen bei der Patientenversorgung führen.
Auch externe Faktoren bedrohen die wirtschaftliche Grundlage der Unternehmen und potenziell die Patientenversorgung. Die schärferen Anforderungen durch die MDR spüren auch die sogenannten Benannten Stellen, durch die alle Medizinprodukte für die Marktzulassung zertifiziert werden. Unter der neuen MDR müssen auch sie sich einer Neuzertifizierung unterziehen. Zum jetzigen Zeitpunkt wurde jedoch nur von wenigen diese Hürde genommen, was die Zahl der aktuell produktiven Benannten Stellen drastisch schrumpfen ließ. Auch hier besteht also ein hoher Nachholbedarf.
Global betrachtet ist abzusehen, dass unter der neuen Verordnung der europäische Markt für bestimmte Medizinprodukte an Attraktivität gegenüber dem US-Markt verliert. Im direkten Vergleich verspricht der US-Freigabeprozess künftig schnellere Zulassungsverfahren für Medizinprodukte als unter der neuen MDR – ausführlich dazu der Beitrag unserer Gastautorin Sarah Sorrel, MedPass International, ab Seite 7 in unserem aktuellen Branchenreport.
Die Herausforderungen durch die neue Medizinprodukteverordnung sind zahlreich und tiefgreifend. Ohne Frage wird die MDR damit zu einem zusätzlichen Treiber der Konsolidierung in der Medizintechnik-Industrie und sicher Anlass für vermehrte strategische Partnerschaften im Medizintechniksektor.
In einem aktuellen Branchenreport zur Medizintechnik in Deutschland und Europa nehmen die Branchenexperten der Taurus Advisory die Folgen für die Innovationsfähigkeit und M&A-Aktivitäten europäischer Medizintechnikhersteller unter die Lupe.